Dr. Christian Berrenberg
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Literarische Praktiken in der (norwegischen) Arbeiterbewegung
Die Arbeiterbewegung in den Jahrzehnten um 1900 kann als gut erforscht gelten. Zum Einen in der skandinavischen Historiographie, wegen ihrer Bedeutung für die sich in den 1930er entwickelnden Wohlfahrtsstaaten, zum Anderen aber auch in der Literaturwissenschaft, die sich vor allem in den 1970er Jahren ausgiebig mit der sog. Arbeiterliteratur und teilweise auch mit dem damit verbundenen Arbeitertheater beschäftigt hat. Was jedoch ein Desiderat der Forschung darstellt, ist eine Untersuchung der spezifisch literarischen Praktiken und die damit verknüpfte Rolle, die Literatur in der Arbeiterbewegung gespielt hat. Im Vordergrund der Arbeit soll nicht die zumeist diskutierte Dichotomie Arbeiterkultur vs. bürgerliche Kultur stehen, sondern das im Forschungsprojekt fokussierte speziell literarische Feld genauer untersucht werden. Dieses lässt sich gerade im Milieu der Arbeiterbewegung nicht scharf vom allgemein-kulturellen Feld trennen, eröffnet in seiner Beschränkung aber neue Erkenntnisse. Untersuchungszeitraum sind die Jahre von ca. 1900 mit den Gründungen verschiedener Jugendverbände bis zur Gründung des Arbeidernes Opplysningsforbund 1931 und der damit einhergehenden Zentralisierung und Institutionalisierung der Kultur- und Weiterbildungsarbeit.
Die Kultur- und somit auch Literaturarbeit der Arbeiterbewegung spielt sich in erster Linie in folgenden Bereichen ab:
- In der Theaterbewegung und im Rahmen der sog. Arbeiterliteratur,
- im Rahmen der opplysningsarbeid/folkeopplysning,
- in den Presseorganen der Arbeiterbewegung
- und später in der organisierten Agitationsarbeit
Der Bereich, der bezüglich Literatur und literarischer Praktiken noch nicht untersucht wurde, ist opplysningsarbeid/folkeopplysning. Treibende Kraft der Weiterbildungsarbeit waren die unzähligen Jugendverbände bzw. ungdomslag.
In den verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften wird der Diskurs über Literatur untersucht. Hierzu werden die wichtigsten und größten Zeitungen herangezogen, vor allem der Jugendverbände. Aus diesen Zeitungen lassen sich in Leit- und Programmartikeln Bildungsideale, unterschiedliche Gebräuche des Literaturbegriffs und Beschreibungen literarischer Praktiken finden. Der Literaturbegriff innerhalb der norwegischen Arbeiterbewegung bewegt sich im Spannungsfeld zwischen ‚Literatur als etwas Neutrales‘ und ‚Literatur als Arbeiterkultur‘. In diesem Spannungsfeld lassen sich verschiedene Nuancen herausarbeiten, die zum Einen eine Entwicklung erkennen lassen, zum Anderen eine Differenz zum hegemonialen, zeitgenössischen Literaturbegriff darstellen. Diese differenzierte Beschreibung der verschiedenen Sichtweisen auf Literatur eröffnet die Möglichkeit, eine Entwicklung vom erst- zum letztgenannten Literaturbegriff zu zeichnen, die letztendlich den Weg für die Gründung des AOF bereitet.
In Anlehnung an und eng verwoben mit dem Diskurs über Literatur sollen die literarischen Praktiken beschrieben und deren Funktion erläutert werden. Im Kern der Untersuchung stehen bisher zum Teil völlig vernachlässigte literarische Praktiken wie
- im Rahmen der Weiterbildungsarbeit
- Vorträge
- Studienkreise und -kurse
- kleine, nicht institutionalisierte Vorführungen
- die interne Arbeit in den verschiedenen Verbänden
- literarische Praktiken auf Festen
- die handgeschriebenen Zeitschriften
- und, gegen Ende des Untersuchungszeitraums, zentral organisierte, meist propagandistische literarische Praktiken
- wie die sog. ‚tramgjengs‘,
- agitatorische Aufführungen und Deklamation
- und weitere.
Die These der Arbeit lautet: Zwischen ca. 1900 und 1931 lässt sich eine zunehmende Vereinnahmung des Literaturbegriffs beobachten, die sich nicht zwangsläufig in der Schaffung einer so oft beschriebenen ‚alternativen Kultursphäre‘ oder ‚adaptierten bürgerlichen Kultur‘ niederschlägt. Die Entwicklungen sowohl der Bildungsarbeit, des Literaturbegriffs als auch der literarischen Praktiken zeigen ähnliche Strukturen und Veränderungen auf. Mit dem parallel stattfindenden Wachstum der Bewegung zeigt sich eine Vereinnahmung und Instrumentalisierung. Vor allem im Kontext der literarischen Praktiken zeigt sich, dass diese nicht hinreichend als Adaption bürgerlicher literarischer Praktiken beschrieben werden können, sondern im Kontext einer an Macht und Struktur gewinnenden Arbeiterbewegung gesehen werden müssen. Die in der Forschungsliteratur konstruierte dichotomische Trennung zum Bürgertum spielt im Untersuchungszeitraum keine herausragende Rolle, vielmehr zeigt sich eine Loslösung des Kultur- und Literaturbegriffs vom Bürgertum.
Das gesammelte Material stammt vor allem aus Arbeiderbevegelsens arkiv og bibliotek in Oslo. Aufgrund eines durch das Forschungsprojekt ermöglichten Forschungsaufenthalts in Arbetarrörelsens arkiv och bibliotek in Stockholm werden ausgehend von den Befunden der Untersuchung der norwegischen Arbeiterbewegung ferner Parallelen und Unterschiede zur schwedischen aufgezeichnet.